Stefan Hunglinger
Journalist
Die Brandruine des Goetheanums, 1923 Foto: Max Benzinger/Wikimedia

 
Basel, am Silvesterabend des Jahres 1922. »In der inneren Stadt erstrahlten die Schaufenster in tausendfacher Beleuchtung«, hieß es damals in der schweizerischen National-Zeitung. Gruppenweise seien Jugendliche durch die Straßen gezogen, lachend und gröhlend, »während auf dem Münsterplatze wie alljährlich die Menge sich besammelte, um den Choral der Posaunen auf den Türmen und die Glocken zu hören, die in feierlichen Tönen das alte Jahr aus- und das neue einleiten sollten.«


Dann begann es im Süden zu leuchten, mitten in der Nacht. Ein Silvesterfeuerwerk? »Immer mächtiger trat der rote Schein am Himmel hervor, bis die ganze Stadt mit den Silhouetten ihrer Dächer und Türme schwarz vor blutrotem Hintergrunde stand. Das ist kein Feuerwerk. Das ist ein Brand, ging es von Mund zu Mund, und bald wussten es die Ersten: Der Tempel der Theosophen, das Goetheanum, steht in hellen Flammen!«


Gerade mal zwei Jahre zuvor war das Goetheanum im schweizerischen Dornach eingeweiht worden, dieser monumentale Holzbau, mit seinen organischen Formen und den grünsilbrigen Schieferkuppeln. Der Anthroposophie sollte das Goetheanum ein Zuhause geben, jener Geheimlehre des Hellsehers Rudolf Steiner. »
Es soll ein edler, kuppelgekrönter Bau gewesen sein, der wirkte wie aus Stein«, schrieb der Berliner Kritiker Kurt Tucholsky nach dem Brand. »Er war aber aus Holz und Gips, wie die ganze Lehre.« Bei allem Spott fand Tucholsky die Brandstiftung „eine Tat, die durchaus widerwärtig ist.«


Die Brandstiftung vor 100 Jahren, sie wird auch Thema der Weihnachtstagung der Anthroposoph:innen in Dornach sein, die am 27. Dezember beginnt. Wachsende »Kritik und Gegnerschaft« sei es gewesen, die „in der Brandstiftung des ersten Goetheanum gipfelte«, heißt es in der Ankündigung. Auch heute sehen sich die Anhänger:innen Steiners wieder der Kritik ausgesetzt, etwa kürzlich durch Beiträge von Jan Böhmermann und Jochen Breyer im ZDF. 
Doch dass das erste Goetheanum dem Hass auf die Anthroposophie zum Opfer fiel, dass der 28-jährige Dornacher Uhrmacher Jakob Ott wirklich das Feuer gelegt hat, in dem er schließlich selbst verbrannte, daran gibt es heute Zweifel.


An Bayern gescheitert
Tatsächlich war die Anthroposophie bei der Mehrheitsgelleschaft nicht besonders beliebt, als sie sich in um die Jahrhundertwende zu etablieren begann. Eurythmieaufführungen, die Vorträge und Mysteriendramen Steiners fanden damals in gemieteten Sälen statt. In den 1910er Jahren dann kam aus dem Umkreis Steiners der Wunsch, »dem Worte Rudolf Steiners einen Tempel zu bauen«. Die Anthroposoph:innen sammelten Geld für einen Doppelkuppelsaal in München-Schwabing, den sogenannten Johannesbau. Mit der Planung wurde der anthroposophische Architekt Carl Schmid-Curtius betraut.


Doch die Leitung der evangelischen Kirche in München wollte keinen esoterischen Tempel in der Nachbarschaft. Auch Anwohner:innen und Münchener Künstler:innen hatten Einwände, was dazu führte, dass die Entwürfe immer wieder überarbeitet wurden. 1913 schließlich wurde das Bauvorhaben durch den bayrischen Staatsminister des Inneren Maximilian von Soden-Fraunhofen aufgrund »schönheitlicher Standpunkte« abgelehnt. Es »ist nicht unsere Schuld, es ist unser Karma«, so Rudolf Steiners Kommentar.


Als auch der Einspruch gegen die bayrische Entscheidung am im Oktober 1913 abgelehnt wurde, hatte Steiner schon eine Alternative gefunden. Das »Felsli« im schweizerischen Dornach. Der Zahnarzt Emil Grosheintz, ein aktives, und wohlhabendes Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft bot Steiner das Hügelgrundstück an. Dass der Kanton Solothurn damals noch kein Baugesetz hatte, nach der Münchner Erfahrung war auch das ein Plus. 
Doch auch in Dornach meldete die Kirche, diesmal die katholische, Bedenken an. Pfarrer Max Kully aus dem benachbarten Arlesheim sah Steiners Lehren als einen »ernsten Irrtum« an und versuchte den Bau noch zu verhindern. Erfolglos.


Das erste Goetheanum von Südwesten aus gesehen. Foto: goetheanum.org/Wikimedia


Nach sieben Jahren Bauzeit wurde das Goetheanum 1920 eingeweiht. Menschen aus 17 Ländern hatten es durch die Kriegszeit hindurch errichtet. Steiner verehrte Johann Wolfgang von Goethe, der neben seiner teils esoterisch inspirierten Dichtung auch »naturwissenschaftliche« Arbeiten, darunter seine Metamorphosenlehre geschrieben hatte. Im Goetheanum, einem Holzbau mit Jugendstil-Elementen war die Metamorphose Bauprinzip. Die Gestaltung eines Säulenkapitells ging aus dem vorherigen hervor. In die beiden Kuppeln malte Steiner mit Pflanzenfarben sein Weltbild: Dämonen, Engel, Naturkräfte und dazwischen Christus, der »Menschheitsrepräsentant«.


Hellsichtigkeit nicht benutzt
Zwei Jahre später war die esoterische Pracht nur noch Schutt und Asche. Steiner hatte am Silvesterabend 1922 noch einen Vortrag gehalten im Goetheanum. »Das Feuer wurde etwa zwanzig Minuten, nachdem der letzte Zuhörer den Bau verlassen hatte, entdeckt«, berichtete später ein  Zeitzeuge, der Anthroposoph Ehrenfried Pfeiffer. Ein Mann, der löschen wollte, sei in dem Rauch ohnmächtig geworden.


»Rudolf Steiner war soeben eingetroffen und machte sich daran, ihn wiederzubeleben«, schreibt Pfeiffer. »Als später die Versicherungsfragen besprochen und erledigt wurden und man Zeugen vernahm, fragte ein Schadensachverständiger Rudolf Steiner in wenig taktvoller Weise: ›Es ist bekannt, daß Sie hellsichtig sind. Warum haben Sie Ihre Hellsichtigkeit nicht dazu benutzt, den ursprünglichen Brandherd zu entdecken und die Mannschaft auf direktem Weg dahinzuführen, statt kostbare Augenblicke zu verlieren?‹ Worauf Rudolf Steiner antwortete: ›Wenn man geistigen Prinzipien dient, wie ich es tue, dann ist man dazu verpflichtet, alles mögliche Wissen der Rettung eines gefährdeten Menschenlebens zur Verfügung zu stellen, selbst wenn einem dabei das eigene Leben und Werk vernichtet wird.‹«


Das Leben von Jakob Ott konnte Steiner nicht retten. Am 10. Januar 1923 werden auf der Brandstätte menschliche Knochenreste gefunden. Die Behörden identifizieren sie damals mit dem vermissten Jakob Ott, einem ehemaligen Katholiken aus Dornach, der erst vor Kurzem zu den Anthroposoph:innen gestoßen ist. Der Verdacht, dass Ott den Brand gelegt haben könnte, kursiert. Rudolf Steiner greift die These auf und vertritt sie zeitlebens. Wie die Verhinderung des Münchner Baus deutet er auch den Brand des Goetheanums esoterisch. Die »Verschwörung einer verborgen wirkenden Gegnerschaft« macht unter Anthroposoph:innen die Runde und hält sich.


In einem Artikel mit dem Titel »Von den okkulten Hintergründen der Zerstörung des ersten Goetheanums« zitiert Thomas Meyer, Leiter des anthroposophischen Perseus-Verlags, noch 1997 Rudolf Steiner mit den Worten:  »Die Kain-Strömung fand im Laufe der Zeiten ihre Hauptvertreter in der Freimaurerei-Strömung, während das Abelitentum seinen Ausdruck fand in der Priesterströmung der Kirche. Beide Menschheitsströmungen blieben einander streng feindlich. Nur einmal vereinten sie sich in Eintracht: in ihrem Haß gegen die Strömung der Mitte. Das Ergebnis dieser einträchtigen Vereinigung beider sonst feindlicher Richtungen war die Vernichtung des Johannesbaues«, also des Goetheanums.


Schockierende Ermittlungsarbeit
Auch bei der Tagung, die Anthroposoph:innen jetzt im Gedenken abhalten wollen und bei der der Regierungsrat von Solothurn und der Gemeindepräsident von Dornach anwesend sein werden, geht es um die Brandstiftung am ersten Goetheanum als »geistiger Mitte zwischen den Weltgegensätzen«. An der Brandstiftung durch Jakob Ott aber gibt es Zweifel.


Die Autorin Michelle Steinbeck hat im Staatsarchiv Solothurn zeitgenössisches Pressematerial, Polizei- und Feuerwehrberichte, Protokolle, anonyme Briefe mit Schuldzuweisungen sowie Röntgenaufnahmen der gefundenen Leiche studiert. Sie sagt, dieser Einblick in die damalige Ermittlungsarbeit hätte sie schockiert. »Angeführt wurde diese, im Fall des Brands sowie im Fall des Todesopfers, von keinem Geringeren als Rudolf Steiner selbst.« Die Behörden wären Steiner ohne Weiteres gefolgt und hätten einen Haftbefehl gegen Jakob Ott erlassen – der im Übrigen ein wasserdichtes Alibi gehabt habe.


Als Dornacher, der vor nicht allzu langer Zeit zu den unbeliebten Anthroposophen »übergelaufen« war, wäre Ott der ideale Sündenbock gewesen: Misstrauen auf allen Seiten. Als seine Leiche am Brandort entdeckt wurde, sei die Behauptung, er sei ins Ausland geflüchtet, zwar entkräftet gewesen. Anstatt jedoch anzuerkennen, dass er als freiwilliger Helfer beim Versuch, den Schwelbrand zu löschen, im Feuer gestorben war, wäre weitgehend am Täternarrativ festgehalten worden. Tatsächlich sprechen sich heute auch einzelne Anthroposoph:innen für Ott aus, etwa Axel Mannigel.


Steiner konnte das zweite Goetheanum noch entwerfen, seinen Bau erlebte er nicht mehr. Foto: Taxiarchos228/Wikimedia


Die polizeilichen Ermittlungen wurden 1923 nach sechs Wochen ohne Schuldspruch eingestellt. Mit der Versicherungssumme von über drei Millionen Franken wurde ab 1925 ein zweites Goetheanum gebaut. Diesmal aus Stahl und Beton.


Michelle Steinbeck hat ein Theaterstück über den Brand des ersten Goetheanums geschrieben mit dem Titel »Der zerbrochene Spiegel«. Ab Silverster ist eine Hörfassung davon auf der Internetseite des Neuen Theaters Dornach zugänglich. Steinbeck sagt: »Was wirklich passiert ist, wissen nur Hellsichtige. Als Autorin hatte ich immerhin die Freiheit, verschiedene Ansätze fiktiv durchzuspinnen: So könnte es gewesen sein, oder so? Sicher ist: Der von der anthroposophischen Gesellschaft bis heute proklamierte Fakt der ›Brandstiftung von aussen‹ ist auch nicht mehr als Theater.«